Buchtipp vom

„Das hohe Bimmeln der Traversflöte“: John Eliot Gardiner feiert Johann Sebastian Bach

Gardiner Bach

„Als Musiker war Bach ein unergründliches Genie; als Mensch hatte er allzu offensichtliche Schwächen, war enttäuschend mittelmäßig und ist für uns in vielerlei Hinsicht bis heute kaum zu fassen.“Mit dieser recht provokanten These beginnt John Eliot Gardiner seine Annäherung an Bach. Eine Annäherung, die sich weniger auf biografische Fakten stützt, von denen es ohnehin wenige gibt,  als auf eine außerordentlich differenzierte Beschäftigung mit der Musik, mit den Kompositionen des großen Komponisten.

So mag man sein Buch Bach. Musik für die Himmelsburg weniger als Biografie lesen, auch wenn sich der Verfasser auf viele Vorgänger-Biografien bezieht – auf Forkel und Spitta, vor allem aber auf Wolff. Der Lebenslauf von Johann Sebastian Bach wird von Gardiner nur kursorisch abgehandelt und spielt immer dann eine Rolle, wenn biografische Daten in direktem Zusammenhang mit seinen Kompositionen stehen. Es gibt also, lässt man die Zeittafel im Anhang außen vor, keine Chronologie der biografischen Ereignisse, keine eigentliche Werkbiografie.

Natürlich setzt sich Gardiner mit Vorgängern und komponierenden Vorfahren auseinander und mit ihrem Einfluss auf den Bach, der später für Gardiner „von Natur aus ein Dissident“ ist, „ein geradezu auf Beethoven vorausweisender Rebell avant la lettre“. Vor allem der ausführliche Hinweis auf seinen Cousin und frühen Lehrmeister Johann Christoph Bach bringt einen neuen Aspekt in die Annäherung an den großen Bach.

Eine Biografie im herkömmlichen Sinne war aber ohnehin nicht Absicht des großen und bedeutenden Dirigenten Sir John Eliot Gardiner. Ihm ging es um die Bach’sche Musik, um persönliche und höchst individuelle Sichten auf Sebastian, wie er ihn zeitweise sehr vertraulich nennt. Was Wunder, war er mit Bach doch seit seiner Kindheit verbunden – und sollte es bis heute bleiben. So zählt der Dirigent, der sich in diesem Buch auf Augenhöhe mit Musikwissenschaft und Musikhistorie (ohne dass die Verständlichkeit seiner Ausführungen darunter leidet) präsentiert, zu den besten Kennern des Thomaskantors. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei den vokalen Schöpfungen von Johann Sebastian Bach: den Kantaten, den Passionen und der großen Messe h-moll (BWV 232). Diese „Bevorzugung“ des Vokalwerks hat etwas damit zu tun, dass Gardiner nicht nur der Gründer des mittlerweile berühmten Monteverdi Choir ist, sondern ab 2000 in seiner Bach Cantata Pilgrimage das gesamte Kantatenwerk aufgeführt hat. Seit 2014 ist Gardiner auch Präsident der Stiftung Bach-Archiv Leipzig.

Was in diesem 700-Seiten-Buch fehlt, und das mag man bedauern, ist eine ausführliche Analyse des instrumentalen Werks wie der Goldberg-Variationen, der Brandenburgischen Konzerte, der Orgelkompositionen. Aber das war wohl auch nicht der Ansatz von Gardiner. Denn er hat nur, Originalton Gardiner, „den Versuch unternommen, jenen Grenzbereich zu erkunden, in dem Musik und Sprache sich berühren“.

Häufig stellt Gardiner die Kompositionen in den Zusammenhang mit zeitgenössischen „Kollegen“ wie Händel und Mattheson, wie Rameau und Telemann oder Scarlatti. Er verliert die Zeitumstände, in denen Bach gelebt hat, nicht aus dem Blick und auch nicht – wir feiern 2017 Luther und die Reformation – den Reformator, der den Komponisten auf vielfältige Weise inspiriert hat.

Johann Sebastian Bach hat den großen Dirigenten also ein Leben lang begleitet, was nicht ohne Einfluss auf das Buch und die Darstellung und Interpretation des Bach’schen Werks bleibt. Autobiografisches fließt ein, und so ist auch dieses Buch ein wenig Selbstdarstellung, was allerdings die Authentizität dessen, was uns der Autor vermitteln möchte, erhöht. Interessant und bewundernd auch die Diktion. So gelingen dem Autor Gardiner, der sich zudem als Schriftsteller outet, wunderbare Formulierungen, zum Beispiel, wenn er in den Trauerkantaten die „tiefen, sonoren Glocken eines misstönenden Geläuts“ hört, wenn an anderer Stelle „das hohe Bimmeln der Traversflöte“ schwebt.

Keine leichte Lektüre, aber eine durchweg anregende, spannende und bereichernde. Vor allem, wenn der Leser sich nicht allein mit dem Lesen zum Beispiel der Kantaten-Interpretationen begnügt, sondern sich Johann Sebastian Bach gleichzeitig auch hörend nähert. Ein absolut gewinnbringendes Verfahren.

„Musik für die Himmelsburg“hat Johann Sebastian Bach komponiert, so Gardiner – eine Metapher mit einem lokalen Bezug. Seine Himmelsmusik werden wir wohl nie endgültig ausloten können. John Eliot Gardiner allerdings hat uns Bach in und mit seinem Buch näher gebracht. Und das auf großartige Weise.

© Günter Nawe

John Eliot Gardiner, Bach. Musik für die Himmelsburg. Carl Hanser Verlag, 760 S., 34,- €

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