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Eine wahrhaft erstaunliche Geschichte: Über Miguel de Cervantes' Roman "Persiles und Sigismunda"

Cervantes Persiles

Längst haben wir, die Leser, es geahnt, vermutet, ja: gewusst, wer sich hinter Auristela, „ein Mädchen von unglaublicher Schönheit“, und Periandro verbirgt. Endlich, am Schluss des Romans verrät uns der Autor die wahre Identität dieser beiden Protagonisten. Und so erklärt sich dann auch der Titel des letzten, des großen Romans des Miguel de Cervantes Saavedra: Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda.

„Eine wahrhaft erstaunliche Geschichte, bei der schon einiges Wohlwollen nötig ist, um ihr Glauben zu schenken“, lässt uns Cervantes zwischendurch augenzwinkernd wissen. Und in der Tat, was in diesem voluminösen Band – wunderbar ediert – zu lesen ist, ist wirklich unglaublich.

Es war sein letztes Werk, das nicht nur in Spanien sofort zum Bestseller aufstieg und auch in Deutschland mehrfach übersetzt wurde. Zuletzt vor etwa fünfzig Jahren und jetzt eben von Petra Strien-Bourmer. Cervantes vollendet seinen Roman wenige Tage vor seinem Tod – er starb am 23. April 1616. In der Vorrede zu den Irrfahrten verabschiedet sich der Autor vom „vielgeliebten Leser“, „nachdem ich gestern bereits die letzte Ölung empfangen habe“, auf dem „Trittbrett schon den Fuß“– nicht ohne diskreten Hinweis auf den Don Quijote – mit dem Satz: „Lebt wohl, ihr Späße, lebt wohl ihr geistreichen Witze, lebt wohl, ihr heiteren Freunde, ich werde sterben in dem Wunsch, euch bald glücklich und zufrieden wiederzusehen in einem anderen Leben“.

Wiedergesehen haben wir uns – der Leser und der Autor – nicht. Aber gelesen haben wir ihn mit Vergnügen, und lesen können wir nun endlich sein letztes Werk, das er für sein bestes hielt – wenn sein Inhalt auch weniger vergnüglich ist, denn ohne Späße und geistreichen Witze kommt es daher. Stattdessen sind Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda ein wunderbarer Pilger- und Abenteuerroman, ein Roman des Begehrens und der Liebe und „ein christlicher Musterroman“, wie der Cervantes-Biograf Uwe Neumahr schreibt.

Was passiert in diesem Roman? Periandro und Auristela werden in den nördlichen, barbarischen Landen von Europa von einer Insel auf die andere verschlagen. Sie werden von Korsaren geraubt und wieder befreit, entkommen Feuersbrünsten, erleiden Schiffbruch, werden ausgesetzt und entführt. Lüsterne alte Könige und verliebte Prinzen, Helden und Heilige treten ebenso auf wie Sünder und Büßer, wie Hexen und Gaukler und Huren. Eine recht bunte Mischung und fast ein repräsentativer Querschnitt einer Gesellschaft im 17. Jahrhundert.

Mittendrin befindet sich das Liebespaar, das sich gemäß einem Schwur als Geschwisterpaar ausgibt und sich auf einer Pilgerreise nach Rom befindet – zur Festigung und Bestätigung ihres Glaubens und um ihr Glück zu finden. Eine Reise also mit Hindernissen. Denn immer wieder werden sie voneinander getrennt und kommen doch wieder zusammen. Sie begegnen Menschen, die ihnen wohlwollen, und solchen, die ihnen Böse wollen. Auristela vor allen ist ob ihrer unbeschreiblichen Schönheit vor Nachstellungen nicht gefeit, bekommt Heiratsanträge, soll Königin werden – und ist doch unverbrüchlich und keusch in ihren Periandro verliebt. So „reisen“ sie zu See von Dänemark bis nach Portugal, und auf dem Landweg weiter durch Spanien nach Italien. Eine echt christliche Pilgerfahrt – bis sie das ersehnte Ziel Rom erreichen. Am Schluss formuliert der Autor: „Das Gute und das Böse scheinen oft doch so nahe beieinanderzuliegen wie zwei zusammenlaufende Linien, die zwar an unterschiedlichen Punkten ihren Anfang nehmen, schließlich aber an einem gemeinsamen Punkt enden.“

Cervantes hat sich sozusagen als Blaupause für seine Irrfahrten des Buches des spätgriechischen Autors Heliodor Die äthiopischen Geschichten von Theagenes und Chariklea, ein seinerzeit sehr berühmtes Buch aus dem 4. Jahrhundert, bedient. „Er setzte alles daran, einen christlichen Musterroman nach Heliodor zu schreiben, der akademischen und theologischen Ansprüchen Genüge leistete“ (Neumahr). Also  kündigte er seine Irrfahrten als ein Werk an, „das sich erkühnt, mit Heliodor zu wetteifern, wenn es nicht schon vorher seiner Dreistigkeit wegen zu Fall kommt“. Es ist „nicht zu Fall gekommen“, wie wir es jetzt in dieser ausgezeichneten Übersetzung von Petra Strien-Bourmer lesen können.

Der Roman besticht durch die Vielstimmigkeit, indem immer wieder neue, andere Personen von all den Abenteuern, Gefahren und Liebeshändeln erzählen. Eine durchweg polymorphe Erzählstruktur. Hauptsächlich aber ist es doch Periandro, der – zugegeben manchmal etwas langatmig und zu ausführlich, oft auch etwas chaotisch – durch das Geschehen führt. Das aber tut dem Lesevergnügen insgesamt keinen Abbruch.

Denn Cervantes hat mit diesem seinem letzten Roman mehr beabsichtigt als nur den Leser zu unterhalten. So sind seine Pilger als würdige Nachfahren der fahrenden Ritter zu sehen. Gleichzeitig sind die Irrfahrten eine Art christlicher Bildungsroman aus dem Geiste der Gegenreformation. Kommen die beiden katholischen Pilger doch aus protestantischen Ländern. Und: „Bei Cervantes bildet das Christentum den Horizont der Liebesgeschichte“, so Petra Strien-Bourmer, deren ausführliches und kenntnisreiches Nachwort in jedem Fall gelesen werden sollte.

Auch politische und moralische Gegensätze werden thematisiert: Barbarentum contra Zivilisation, Norden gegen Süden, das Gute gegen das Böse. Ein elementares Motiv, das den ganzen Roman durchzieht, ist die Schönheit, für die in erster Linie Auristela steht. „Schön war Sigismunda bevor sie ihr Unglück ereilte, und nachgerade wunderschön, nachdem das Unheil über sie hereingebrochen war, denn bisweilen vermögen Leid und Kummer auch die größte Schönheit noch zu steigern“, heißt es an einer Stelle.

Am Ende der abenteuerlichen Pilgerfahrt steht – natürlich – ein Happy End. Die beiden Protagonisten geben ihre Herkunft preis. Der schöne Königssohn Persiles von Thule heiratet die schöne Königstochter Sigismund von Frislandia. Eine „wahrhaft erstaunliche“ Geschichte.

© Günter Nawe

Miguel de Cervantes, Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda. Die Andere Bibliothek, 500 S., 42,- Euro

Ein wenig Eigenwerbung sei an dieser Stelle erlaubt: Die Besprechung dieser wunderschönen Ausgabe des Cervantes-Romans Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda als „Unser Buch des Monats“ steht im Zusammenhang mit einem Cervantes-Projekt, das die Lengfeld’sche Buchhandlung und die Literaturfreunde der Lengfeld’schen Buchhandlung aus Anlass des 400. Todestages dieses Autors (23. April 1616) bereits zu Beginn diesen Jahres initiiert hat. Mit der Lesung des ganzen Don Quijote von der Mancha durch Helge Heynold und einem Erfahrungsbericht der Übersetzerin Susanne Lange über ihre 5 Jahre mit Don Quijote „feiern“ die Buchhandlung und die Literaturfreunde den großen Miguel de Cervantes Saavedra.

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