Buchtipp vom

Olga Tokarczuk

Empusion

Grenzüberschreitungen sind ein häufiges Motiv im Schreiben von Olga Tokarczuks. In ihrem neuen Roman Empusion, dem ersten nach der Verleihung des Literaturnobelpreises 2019, gilt das schon für den Schauplatz, einen historischen Kurort in Schlesien. Görbersdorf liegt im Riesengebirge, damals im preußischen Schlesien, heute in Polen in Sichtweite von Tschechien. Die Handlung spielt 1913, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in dem viele Grenzen verschoben werden.
Noch scheint es friedlich, sogar idyllisch, und so suchen hier Urlauber und Kranke vor allem aus Mittel- und Osteuropa Erholung und Heilung. Ein Zauberberg also, dessen natürliche und historische Bedingungen die Erzählstimme des Romans angenehm altmodisch darlegt. Wie bei Thomas Mann wird ausführlich und scheinbar ziellos diskutiert und debattiert. Der Roman glänzt dabei mit perfektem Timing: die Langeweile des Kurbetriebs überträgt sich nie auf den Leser. Das gelegentlich bizarre Geschehen wirkt nicht überzogen und einige Kochrezepte stören den Erzählfluss nicht.


Dass die Verhältnisse in Wirklichkeit prekär sind, erfahren die Kranken sowieso am eigenen Leib und auch der Alltag der anderen wird durch unheimliche Vorkommnisse gestört. Liegt das auch an einer besonderen „Natur“ des Ortes?
Mittendrin findet sich der junge Pole Mieczyslaw Wojnicz, Ingenieursstudent aus dem österreichischen Lemberg, heute Lviv in der Ukraine. Er ist der eher passive Held der Geschichte, tuberkulosekrank, wie die älteren Mitbewohner seiner Unterkunft. Deren Gespräche kreisen obsessiv um „die Frau“ an sich, und langsam merkst du, was wesentlich fehlt in diesem Buch: weibliche handelnde Personen. Doch Mieczyslaw ist es so gewohnt, weil ohne Mutter aufgewachsen, und erfährt dadurch und durch seine „Weichlichkeit“ schon früh Ausgrenzung und Manipulationsversuche. Hier, in diesem speziellen Biotop, reifen diese Erfahrungen zu einer spektakulären Wandlung!
Sicher ist das Buch ein Plädoyer für Offenheit gegenüber begrifflichen Festlegungen und realen Grenzziehungen aller Art. Olga Tokarczuk hat kein Manifest geschrieben. Ihre Erzählweise hinterfragt subversiv gängige Haltungen und zeigt leicht und unterhaltsam neue Perspektiven auf.


(Markus Kroczek)

Übersetzt aus dem Polnischen von Lisa Palmes u. Lothar Quinkenstein.
Kampa Verlag 2023; ca. 384 Seiten; € 26,-.

zurück