Buchtipp vom

Gaito Gasdanow

In einer Welt imaginärer Erschütterungen: Ausgewählte Erzählungen

In der Erzählung Die Verwandlung stellt das erzählende Ich fest: „… dass ich meine alten Gefährten nie wiedergesehen habe…, dass ich hier allein in einer imaginären Welt der Erschütterungen und Beunruhigungen lebe…in Nachbarschaft mit dem unbeirrbaren Ehepaar Thomson, das ich einst an einem nebelverhangenen Wintertag erfunden habe, und das nie existierte“.

Von dieser Art sind die Geschichten des Gaito Gasdanow; sie erzählen meist von entwurzelten Menschen, die oft aus der Zeit gefallen sind; von Menschen, die in ihrer Welt leben, als erlebten sie ein fremdes Schicksal. Es sind vielfach russische Emigranten in Paris, die in einer Art Doppelexistenz leben.

Wie auch seinerzeit Gaito Gasdanow, 1903 in Sankt Petersburg geboren. Während des russischen Bürgerkriegs kämpfte er auf Seiten der Weißen Armee gegen die Bolschewiken. Ab 1923 lebte Gasdanow in Paris, schlug sich zeitweise als Taxifahrer und Lastenträger durch, studierte an der Sorbonne Literatur, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften. Er publizierte regelmäßig in Zeitschriften der russischen Emigration, hatte erste Erfolge.

Gaito Gasdanow schloss sich im Zweiten Weltkrieg der Résistance an. Später lebte er fünf Jahre als Mitarbeiter des Senders Radio Liberty in München, ging aber 1959 noch einmal als Korrespondent des Senders nach Paris zurück. Ab 1966 bis zu seinem Tode am 5. Dezember 1971 lebte Gasdanow wieder in München.

Der Durchbruch als Schriftsteller erfolgte 1930 mit dem Roman Ein Abend mit Claire (2014 in deutscher Sprache). 2012 erschien der Aufsehen erregende Roman Das Phantom des Alexander Wolf erstmals in deutscher Übersetzung. Fortan kann man von einer Art Renaissance des Gaito Gasdanow reden.2016 erschien Die Rückkehr des Buddha und vor wenigen Wochen Nächtliche Wege. Alles durchweg empfehlenswerte Romane, mit denen Gasdanow sein großes schriftstellerisches Können unter Beweis stellt. Nicht ohne Grund wird er vielfach mit Iwan Bunin und Vladimir Nabokov verglichen.

Neben den Romanen sind es die Erzählungen, die die Beschäftigung mit Gaito Gasdanow so spannend machen. Etwa vierzig hat er geschrieben. Dreizehn davon sind jetzt - man darf sagen: erfreulicherweise - unter dem Titel Laternen erschienen. Übersetzt und herausgegeben hat sie der Mnemosina e.V. Köln unter Leitung von Marianne Wiebe. Sie erzählen von Schicksalen, tiefen Erschütterungen und großen Beunruhigungen; von Menschen, die zwischen Russland und Frankreich in einer Art Doppelexistenz leben. Und sie sind durchweg autobiografisch grundiert.

Einige erzählen vom Leben der Emigranten in Paris (wie Totenmesse), wieder andere, wie Der Abenteurer, sind sozusagen als Reminiszenz von Ereignissen in Petersburg im vorrevolutionären Russland zu lesen. Ereignisse, die an das Ende der Welt zu erinnern scheinen. „Ich glaube nicht, dass es eine Katastrophe oder ein Erdbeben oder eine Sintflut geben wird; nein, unsere Nachfahren werden einfach erfrieren und auf die wunderschönen, im Weiß und im Klang des Schnees versunkenen Gebäude schauen…“.

Reflexionen und Assoziationen bestimmen die Texte. Ebenso wichtig erschien es Gasdanow, den Charakter seiner Figuren, der wahren und erfundenen, auszudeuten und tief in ihr Seelenleben einzudringen. Sie alle leben in einer Welt imaginärer Erschütterungen. So in der Geschichte von Filipp Apollonytsch in Die Verwandlung oder in der Erzählung Schwarze Schwäne, in der der Russe Pawlow voraussagt: „Am fünfundzwanzigsten August werde ich mich erschießen.“

In der Erzählung Fürstin Mary finden wir den Satz, der vielleicht am besten den Autor Gasdanow und sein Werk charakterisiert: „Ich aber bin Künstler. Ich schreibe über das, was ich sehe und mehr nicht. Und das ist die wahre Literatur“.

© Günter Nawe

Gaito Gasdanow, Laternen.
Ausgewählte Erzählungen.
Mnemosina e.V., 235 S., 14,- €

Gaito Gasdanow

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