Buchtipp vom

Jüdischer David gegen russischen Goliath

Erstmals "Sämtliche Erzählungen" von Isaak Babel in einem Band
Babel Taubenschlag

Berühmt geworden ist der russische Schriftsteller Isaak Babel (1894-1940) durch die beiden Erzählungen „Budjonnys Reiterarmee" und die „Geschichten aus Odessa". Beides Werke, die zur Weltliteratur gehören. Den Schriftsteller jedoch auf diese beiden Zyklen zu fokussieren, wäre zu wenig. Und so ist es das große Verdienst des Hanser-Verlags, jetzt „Sämtliche Erzählungen" von Isaak Babel, mit Urs Heftrich und Bettina Kaibach als Herausgebern, in einer großartigen, teilweise neu übersetzten und brillant kommentierten Ausgabe zu veröffentlichen.

„Mein Taubenschlag" heißt dieses Buch. Der Titel rekurriert auf die Erzählung „Die Geschichte meines Taubenschlags", einem kleinen Zyklus, Maxim Gorki gewidmet, der so etwas wie die geistige Biographie des russisch-jüdischen Autors Isaak Babel darstellt. Hauptfigur ist ein lernbegieriger Junge, dessen Schicksal es ist, als Jude immer besser sein zu müssen als andere. Und das nicht nur für sich selbst, sondern und auch für die Selbstachtung und das Renommee des Vaters. Gegen alle Widrigkeiten und Hindernisse hinweg erreicht der Junge das Gymnasium – und feiert so „den Sieg eines jüdischen David gegen den russischen Goliath", heißt es im kenntnisreichen Nachwort von Bettina Kaibach.

Doch kehrt sich der Erfolg des Jungen plötzlich ins Gegenteil, in Schmerz und Verlust. Als Belohnung für die bestandene Aufnahmeprüfung ins Gymnasium erhält das Kind die sehnlichst erwünschten Tauben. Während eines der viele Pogrome, die zur Zeit der revolutionären Umtriebe in Russland stattfanden, erlitt das Kind die höchstmögliche Demütigung. Die Tauben wurden ihm auf dem Gesicht zerquetscht. Statt eines Happy Ends gab es eine Katastrophe. So steht der kleine, völlig traumatisierte Held für die Position der Juden in dieser Zeit und in dieser russischen Gesellschaft insgesamt.

Mit dieser Erzählung von Isaak Babel ist die gesamte Thematik seiner Dichtung vorgegeben: die Jüdischkeit in allen ihren vielfältigen Ausprägungen, die Revolution mit ihren Grausamkeiten, die Pogrome; kindliche Alpträume, Liebe und Tod und das pralle Leben der herrliche Gaunertypen in Odessa. Von all dem wird in den berühmteren Geschichten Babels erzählt: in „Mein Taubenschlag", in „Budjonnys Reiterarmee", in den „Geschichten aus Odessa" und vielen weiteren wunderbaren Geschichten.

Isaak Babel beweist sich als herausragender Chronist der dramatischen Jahre der russischen Revolution. Vor allem, weil auch sein persönlicher, sein politischer Werdegang und die Veränderungen seiner Ansichten in seiner Literatur zum Ausdruck kommen. Gerade deshalb wurden seine Erzählungen insgesamt zum sensationellen Erfolg. „Babel ist der erste Jude, der als russischer Schriftsteller in die russische Literatur eintrat", bescheinigte ihm der Kritiker Abram Ležnjov im Jahre 1926.

Und das nicht nur thematisch. Babel ist ein außergewöhnlicher Stilist. Es gelingt ihm, mit wenigen Worten Atmosphäre her- und Situationen darzustellen. In der Tradition der jiddischen und russischen Erzählkunst stehend hat er einen ganz eigenen Stil kreiert. Seine Texte zeichnet eine große Stimmenvielfalt aus. Da ist der Jargon der odessitischen Ganoven, da ist die die Reportage, da ist Witz und Chuzpe und immer auch ein Schuss Melancholie - gemischt mit jiddischen und ukrainischen Elementen, mit biblischen und lyrischen Beifügungen. Und trotz dieser stilistischen Vielfalt liest sich die babelsche Prosa wie aus einem Guss.

Genau das macht auch die Qualität der hier vorliegenden Übersetzungen aus. Peter Urban, dessen Übersetzung von „Budjonnys Reiterarmee" wir hier einmal mehr lesen können (wir kennen sie bereits aus der Ausgabe der „Reiterarmee" in der Friedenauer Presse), ist unvergleichlich. Und Bettina Kaibach - wir hatten allen Grund, bereits ihre Kommentierung und Ihr Nachwort zu loben - steht für eine wunderbar einheitliche und kompetente Übersetzung der übrigen Erzählungen.

Mit besonderem Vergnügen ist deshalb auch auf die „Geschichten von Odessa" hinzuweisen. Diese Gaunergeschichten aus dem mythischen Odessa – übrigens ist Isaak Babel hier geboren – zeigen die Juden nicht mehr nur als „Märtyrer" in einem typisch jüdischen Schtetl, sondern als Protagonisten in einer herrlich vitalen Gaunerkomödie, die von Benja Krik inszeniert wird. Eine Geschichte voller krimineller Energie, lustvoller Lebenseinstellung, von einer gigantischen Tochter und einem lüsternen Bräutigam. Und von einer Begräbnisfeier, die zu einem irrwitzigen Spektakel wird – und an deren Ende ein kaltblütig hingerichtetes Mordopfer zu Grabe getragen wird.

So ist dieser Band „Mein Taubenschlag" in vieler Hinsicht ein außergewöhnliches Buch, ein außergewöhnlich schönes Buch – und ein Lesevergnügen par excellence.

© Günter Nawe

Isaak Babel: "Mein Taubenschlag". Hanser Verlag, 864 S., 39,90 Euro

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