Buchtipp vom

Nicolas Edme Rétif de la Bretonne, "Monsieur Nicolas oder Das enthüllte Herz" und Boris Vian, "Die Gischt der Tage"

Von Liebesfreuden und Liebesleid: Schonungslose Bekenntnisse und ein surrealistischer Roman
Bretonne Nicolas

Im Rahmen der diesjährigen Frankfurt Buchmesse sind über tausendzweihundert französische Titel in deutscher Übersetzung erschienen. So war es zwangsläufig eine mehr als schwere Entscheidung, welcher oder welche dieser Titel Unser Buch des Monats werden sollte(n). Die Entscheidung ist für das Memoirenwerk des Nicolas Edme Rétif de la Bretonne und für den Roman Die Gischt der Tage von Boris Vian gefallen. Beide Werke stammen aus unterschiedlichen Epochen; die Memoiren aus dem achtzehnten, der Roman aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Und beide sind auf ihre jeweils eigene Weise Beispiele für die große Literatur unseres französischen Nachbarn.

„Ich gehe daran, Ihnen hier das ganze Leben eines Ihrer Mitmenschen vorzulegen, ohne etwas zu verschleiern, weder von seinen Gedanken, noch von seinen Taten. Der Mensch, dessen Seele ich hier anatomieren werde, konnte allerdings kein anderer sein als ich selbst.“ So Nicolas Edme Rétif de la Bretonne (1734-1806) in seinem Memoirenwerk Monsieur Nicolas oder Das enthüllte Menschenherz.

Zu tun haben wir es mit einem der schonungslosesten und großartigsten Memoirenwerke der Weltliteratur - vergleichbar den Bekenntnissen eines Augustinus, eines Jean-Jacques Rousseau, eines Samuel Pepys oder eines Giacomo Casanova.

Und so lesen wir mit Vergnügen und Erstaunen, was dieser Drucker und Autor aus der Bourgogne in den 72 Jahren seines Lebens gedacht und gefühlt, erlebt und erlitten hat. In der Tat lässt Rétif de la Bretonne nichts aus. „Ich schildere den Menschen, wie er ist, nicht, wie er sein soll.“ Also erzählt er von seiner Jugend, dem Aufenthalt in der Klosterschule, von seiner Zeit als Drucker in Paris. Er wurde zu einem gnadenlosen Beobachter - seiner selbst und anderer Menschen. Er zeigt uns sein „enthülltes Herz“ und erzählt von seinen Erlebnissen (nicht nur) mit unzähligen Frauen: „Ich, der ich die Frauen nur mit Zittern ansehen konnte, bin plötzlich in einer Stadt, wo die Häuser nicht abgesondert voneinander stehen ... Sie stoßen aneinander, und sind voll hübscher Mädchen“.

Der Autor nimmt kein Blatt vor den Mund. Obszönes en gros et en detail ist ihm genauso der Schilderung wert wie Peinliches, Edles wie Böses, Lobenswertes und Verwerfliches. Insgesamt gibt es keine „keine Nettigkeiten“. Stattdessen die Offenlegung intimer Bekenntnisse.

Das Buch ist allerdings mehr als nur eine unterhaltsame Schilderung wahrscheinlicher und unwahrscheinlicher Ereignisse im Leben des Verfassers. Es ist auch eine sozialgeschichtliche Quelle über das Leben der unteren Schichten und der armen Leute in der Zeit vor der Französischen Revolution.

Rétif de la Bretonne hat sein Leben lang an diesem einzigartigen, schier ausufernden Buch gearbeitet. „Das Büchermachen und das Lieben ließen ihm zu anderen Lustbarkeiten kaum Zeit.“, so der Herausgeber und Übersetzer Reinhard Kaiser in seinem informativen Nachwort. Rétif de la Bretonne starb völlig verarmt und vereinsamt in Paris.

Seine Zeitgenossen waren von seinem Werk sehr angetan. So schrieb Schiller an Goethe über dieses „seltsame Buch“ und seinen Autor: „Denn eine so heftig sinnliche Natur ist mir nicht vorgekommen, und die Mannigfaltigkeit der Gestalten, besonders weiblicher… das Leben und die Gegenwart der Beschreibung… muss interessieren….“. Und Wilhelm von Humboldt: „Ich zweifle, ob es sonst noch irgendwo ein Buch geben mag, in dem so vieles, so wahres und so individuelles Leben zu sehen ist“. Dass und wie beide „Kritiker“ von damals Recht hatten, kann der heutige Leser nachvollziehen - anhand dieser wunderbaren Ausgabe.

Nichts als die Wahrheit, postulierte Rétif de la Bretonne! Diesem Anspruch kann ein anderer Franzose gut 200 Jahre später nicht gerecht werden: Boris Vian (1920-1959). Er muss es  auch nicht, weil sein großartiger Roman einer ganz anderen Kategorie von Literatur angehört - und deshalb mit anderen Maßstäben gemessen werden muss.

1947 ist L’Écume des jours“ (Die Gischt der Tage) erstmals erschienen - und zu einem Klassiker von phantastischer, von surrealistischer Poesie geworden. Der Roman erzählt von der Liebe zwischen Chloé und Colin. Sie versprechen sich ewige Liebe und ewige Treue. Und wenn sie nicht gestorben wären …  Doch Boris Vians Roman ist mehr als eine banale Liebesgeschichte, die allerdings ein sehr trauriges Ende nimmt.

Die Gischt der Tage ist ein modernes Märchen voller surreal-verspielter Szenen. Mäuse tanzen, Aale wohnen in Wasserleitungen, zerbrochene Fensterscheiben wachsen wieder nach. Man teilt das kritische Interesse am Philosophen Jean-Sol Sartre (sic) und die Freude an Arrangements von Duke Ellington. „Chick setzt sich ans Klavier. Am Ende des Stücks rasselt ein Teil der Vorderwand herunter, und eine Reihe Gläser tauchte auf. Zwei davon waren randvoll mit einem appetitlichen Mix.“ Alle Welt ist glücklich. Ein Glück, dass bald ein Ende haben sollte. Chloé wird unheilbar krank, und der Roman kippt ins Tragische. Jetzt tanzen keine Mäuse mehr, ein fliegender Schuh zertrümmert Fensterscheiben und in die Brust der sterbenden Geliebten wächst ein Lotos. Colin ist verzweifelt - über den Tod seines Freundes Chick und den seiner Geliebten Chloé.

So sterblich Chloé war, so unsterblich ist dieser Roman, der schon einmal unter dem Titel Der Schaum der Tage erschienen ist und den Frank Heibert jetzt neu übersetzt hat. Das Buch allerdings nur als romantisch-tragische Liebesgeschichte zu lesen, wird ihm nicht gerecht. Vian hat die Autoritäten infrage gestellt, Gesellschaftskritik geübt, eine (seine) Art von Nihilismus propagiert, indem er eine schöne Welt am Ende rigoros zerstört.

© Günter Nawe

Rétif de la Bretonne, Monsieur Nicolas oder Das enthüllte Menschenherz. Galiani Verlag, 720 S., 38,- €

Boris Vian, Die Gischt der Tage. Verlag Klaus Wagenbach, 232 S., 20,- €

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