Buchtipp vom

Nur die Jungen kennen solche Momente: Die Überquerung der Schattenlinie

Conrad Schattenlinie

Der junge Held des Romans Die Schattenlinie von Joseph Conrad wartet sehnsüchtig auf sein erstes Kommando. Endlich kann er als Kapitän an Bord gehen; muss verantwortlich eine Mannschaft führen, ein Schiff durch den Indischen Ozean manövrieren. Eine schier unmenschliche Aufgabe für den jungen und unerfahrenen Mann. Denn die Mannschaft ist durchweg an einem Tropenfieber erkrankt, die notwendigen Medikamente fehlen, weil sein Vorgänger die Chinin-Vorräte gegen ein nutzloses Pulver ausgetauscht hat; sein Erster Offizier sieht im Delirium das Schiff vom bösen Geist des alten Kapitäns bedroht. Außerdem ist das Schiff in eine Flaute geraten und treibt Tag für Tag nur im Kreis.

In diesem Roman geht es allerdings weniger um eine der vielen spannenden Seefahrer-Geschichten der Literatur, auch wenn das Geschehen an Bord abenteuerlich genug ist. Es ist eine autobiografisch grundierte Geschichte und eine Art „Entwicklungsroman“. Joseph Conrad (1857-1924) hatte selbst einen unbezähmbaren Drang zur See. Er diente sich vom Leichtmatrosen auf einem Schmugglerschiff zu einem der angesehensten Kapitäne der englischen Marine hoch. Er kannte das Metier in- und auswendig, wusste um die Gefahren der Seefahrt, wusste aber auch aus eigener Erfahrung um das, was dieser Beruf, was die See aus einem Menschen, mit einem Menschen machen kann. Nicht umsonst wird dieser Roman im Untertitel als Bekenntnis bezeichnet.

Das alles erlebt, erleidet auch der junge Kapitän, der sich plötzlich am Übergang sieht vom Jugendlichen zum Mann. Bereits in der Einführung gibt Joseph Conrad als Ich-Erzähler die Richtung vor, wie er den Roman gelesen haben will: als eine Geschichte des Übergangs von der Jugend zum Erwachsenseins: Nur die Jungen kennen solche Momente…. Man schließt hinter sich das kleine Tor der bloßen Knabenzeit - und betritt einen verzauberten Garten. Schon seine Schatten leuchten vor Verheißung… Man geht weiter, kennt erregt oder amüsiert die Spuren all der Vorgänger… das bunte, allen gemeinsame Schicksal…Ja, man schreitet voran. Und die Zeit schreitet auch voran - bis man nicht weit voraus eine Schattenlinie sichtet, die einen mahnt, man müsse auch das Reich der frühere Jugend hinter sich lassen.

Die Schattenlinie - Joseph Conrad hatte sie einst selbst überschritten und schreibt nun in seinem Alterswerk (1917) darüber. Es ist die … erzählende Vergegenwärtigung seiner frühen Erfahrungen. So der Herausgeber und brillante Übersetzer des Roman Daniel Göske in seinem ausgezeichneten und sehr informativen Nachwort.

Es passiert relativ wenig in diesem Roman - und doch so sehr viel. Schon allein die Beschreibung der Figur des Ersten Offiziers, der in seinen depressiven Phasen glaubt, dass der tote Kapitän das Schiff und seine Mannschaft vernichten will, ist ein Meisterstück erzählender Psychologie. Diesen Phantasien entzieht sich der junge Kapitän ebenso wie dem schwarzen Nichts, das über dem Schiff liegt. Zusammen mit einigen wenigen Mitgliedern der erkrankten Mannschaft versucht er, jede leichte Brise auszunutzen, um das Schiff voran zu bringen: Für mich gibt es nicht eher Ruhe, bis mein Schiff im Indischen Ozean ist, und selbst dann werde ich nicht viel Ruhe haben. Das Schiff wird im Indischen Ozean ankommen, der junge Kapitän hat seine „Bewährungsprobe“ bestanden. Er hat die Schattenlinie überquert.

Dem Buch ist eine weitere Geschichte des Joseph Conrad beigegeben: Der geheime Teilhaber. Diese Geschichte zählt zu den berühmtesten dieses ohnehin genialen Erzählers und Romanciers. Sie korrespondiert indirekt mit dem späteren Roman Die Schattenlinie und kündigt schon das große Thema des Romans an.

© Günter Nawe

Joseph Conrad, Die Schattenlinie. Carl Hanser Verlag, 420 S., 30,- €

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