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„Philosophie in Form eines Lebens gegossen“: Sarah Bakewell serviert prickelnde „Aprikosencocktails“

Bakewell Cafe

Die Geburtsstunde des Existentialismus schlägt 1932 im Café Bec de Gaz in der Rue de Montparnasse. Raymond Aron und Jean-Paul Sartre sitzen zusammen, rauchen, tauschen Klatschgeschichten aus und schlürfen Aprikosencocktails, als Aron plötzlich zu seinem Freund sagt: „Siehst du, mon petit camarade, wenn du Phänomenologe bist, kannst du über diesen Cocktail sprechen, und das ist dann Philosophie.“

Auch Sarah Bakewell spricht über „diesen Cocktail“ und schreibt in ihrem neuen Buch Das Café der Existenzialisten – Freiheit, Sein & Aprikosencocktails eine Geschichte des Existenzialismus und so ganz nebenbei eine kleine Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Und dies auf unnachahmliche Weise: stilistisch brillant, kenntnisreich und witzig, unterhaltend und humorvoll, leidenschaftlich und voller interessanter Einsichten.

Ihr Faible für Philosophie hat die Autorin bereits mit 16 Jahren entdeckt – nach der Lektüre des Romans Der Ekel von Jean-Paul Sartre. „Das alles gefiel mir, und ich war fasziniert, als ich hörte, dass Sartre mit dieser Geschichte eine Philosophie namens ‚Existenzialismus’ vermitteln wollte.“ Es war eine Faszination, die viele Leser sicher werden nachvollziehen können, soweit sie in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts selber mit dieser Philosophie in Berührung gekommen sind – bis hin zu schwarzen Rollkragenpullovern und Existenzialistenbart sowie nächtelanger Lektüre der Werke von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir.

Was Existenzialismus ist, woher er kam und was aus ihm geworden ist, lässt sich wunderbar in dem Buch von Sarah Bakewell nachlesen. Hier eine ihrer bemerkenswerten Erklärungen: „Dem Existenzialismus ging es stets um das konkrete, individuelle Leben. Wahrer Existenzialismus ist angewandter Existenzialismus – inhabited philosophy – bewohnte oder gelebte Philosophie. Für mich ist Philosophie interessanter, wenn sie in die Form eines Lebens gegossen wird – wie umgekehrt die persönliche Erfahrung interessanter ist, wenn sie in Philosophie eingebunden wird.“

Die Autorin Sarah Bakewell, die bereits durch die Biographie Wie soll ich leben oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten glänzen konnte, bezieht in ihre Geschichte des Existenzialismus, die ja zugleich eine Geschichte der beiden Protagonisten Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir ist, die Vorläufer und Mitläufer, die Vordenker und Nachdenker dieser philosophischen Epoche ein: Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger, Edmund Husserl und Karl Jaspers. In kurzen biographischen Darstellungen und ausführlicher Werkanalyse werden die Beziehungen zwischen zum Beispiel Sein und Zeit von Heidegger („der große Philosoph der Alltäglichkeit“), der Phänomenologie von Edmund Husserl und Sören Kierkegaards Der Begriff Angst, vonSartres Das Sein und das Nichts sowie Beauvoirs Alles in allem und zum Beispiel Das andere Geschlecht dargestellt. Nicht zu vergessen: Maurice Merleau-Ponty als einer der wichtigsten Vertreter der französischen Phänomenologie.

Es bedarf keiner Mühe, sich mit der genialen Autorin Sarah Bakewell in ihrer Kollektivbiografie vorzustellen, wie alle diese Damen und Herren, diese Denker von hohen Graden, im Pariser Café zusammensitzen. „Schaut man durch die Fenster ins Innere, sieht man zunächst die bekannten Gestalten ihre Debatten führen. Sie ziehen an ihrer Pfeife und beugen sich vor, um ihrem Gegenüber den eigenen Standpunkt zu erläutern. Irgendwo erhebt jemand vor Empörung die Stimme, aber man hört auch das leise Gemurmel von Liebespaaren in den dunklen Winkeln des Cafés“.

Was so salopp daherkommt, ist eine höchst ernsthafte Auseinandersetzung mit den philosophischen Zeitströmungen, den politischen und gesellschaftlichen Bezügen – kurz: mit allem, was an Ingredienzien zu Sarah Bakewells prickelnden „Aprikosencocktails“ gehört: Politik, Literatur und Film, Kunst und Mode, Sex, Musik und Theater. Der Existenzialismus war ein immerwährender Diskussionsstoff und letztendlich eine „Lebensphilosophie“, in der nach Sartre „die Existenz der Essenz“ vorausgeht, in der es um das nackte Dasein geht und um die Befreiung des Menschen zu seinen eigenen Möglichkeiten. Denn wir sind nicht nur frei, wir sind zur Freiheit verurteilt und verdammt.

Radikale Freiheit und authentische Existenz – der Existentialismus hat seine Faszination bis heute nicht verloren. Sarah Bakewell beweist es mit ihrem überaus interessanten Buch Das Café der Existenzialisten – Freiheit, Sein & Aprikosencocktails. Und so nehmen wir gern ihre Einladung an, setzen uns einfach selbst in eine der dunklen Ecken dieses Cafés und verfolgen die Debatten der „bekannten Gestalten“ – und das mit dem größten Vergnügen und mit unendlichem Gewinn.

© Günter Nawe

Sarah Bakewell, Das Café der Existenzialisten. Verlag C.H. Beck, 448 S., 24,95 €

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